Interview

„Eine historische Chance“

Ausgabe 80 – März | April 2019

Nishant Jain ist Programmleiter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ in Indien und war als Berater der indischen Regierung direkt an der Ausarbeitung und Umsetzung der neuen Krankenversicherung beteiligt.

Nishant Jain, GIZ
Nishant Jain, GIZ
Laut Aussage des indischen Finanzministers hat Modicare bereits wenige Monate nach seiner Einführung die größten Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung für arme Menschen seit der Unabhängigkeit mit sich gebracht. Hat er recht?

Jain: Was die Zahlen angeht: ja. In vier Monaten haben mehr als zehn Millionen Familien eine Versicherungskarte erhalten, mehr als eine Million Inder wurden schon aufgrund der neuen Versicherung behandelt. Und rund 14.000 Krankenhäuser sind bereits Teil des neu geschaffenen Netzwerkes. Das ist ein großer Erfolg!

Kritiker bemängeln, dass Modicare nur Krankenhausaufenthalte abdeckt. Die Armen müssten die Kosten für eine ambulante fachärztliche Versorgung und wichtige Arzneimittel weiterhin selbst tragen.

Jain: Das ist eine verkürzte Ansicht, da das neue Gesundheitsprogramm zwei Komponenten enthält. Zum einen die Modicare genannte Versicherung für Krankenhausaufenthalte. Zeitgleich hat die Regierung aber auch ein Programm gestartet, das zu 150.000 neuen Gesundheitszentren im ganzen Land führen soll. Bis diese fertiggestellt sind, wird es aber natürlich einige Jahre dauern, daher sehen viele aktuell nur den neuen Versicherungsschutz.

Bräuchte es nicht erst einmal deutlich mehr Krankenhäuser, Ärzte und Krankenschwestern, bevor an verbesserten Versicherungsschutz zu denken ist?

Jain: Das ist ein Henne-Ei-Problem. Die indische Regierung gibt aktuell nur rund ein Prozent des Bruttoinlandproduktes für das Gesundheitswesen aus, also wird sehr viel Unterstützung vom privaten Sektor benötigt. Diese wird kommen, wenn es mehr Nachfrage gibt. Das neue Versicherungsprogramm will diese Nachfrage schaffen. Außerdem erhält der private Sektor Incentives für das Bauen neuer Krankenhäuser. Aber natürlich müssen zeitgleich auch die Gesundheitsausgaben der Regierung gesteigert werden – diese hat versprochen, das Budget in den nächsten Jahren auf 2,5 Prozent des BIP zu erhöhen.

In Indien wird bald gewählt. Will Modi sich mit dem neuen Programm vor allem die Stimmen der Armen sichern?

Jain: Nein, hier geht es nicht um Wahlkampf. Wir arbeiten an dem Programm schließlich seit mehr als zwei Jahren. Aber ich finde es sehr gut, dass Gesundheit endlich auch in Indien auf der politischen Agenda steht.

Ist die gut funktionierende thailändische Krankenversicherung für Sie bei der Entwicklung von Modicare ein Vorbild gewesen?

Jain: Thailand ist ein sehr erfolgreiches Beispiel, weil dort mit wenig Mitteln eine universelle Krankenversicherung geschaffen wurde. Aber es gibt auch viele weitere Positivbeispiele wie die Lösungen in der Türkei, in Südkorea und einigen lateinamerikanischen Staaten. Aber ein Land, das so groß, divers und komplex wie Indien ist, kann nicht einfach ein spezifisches anderes Land als Vorbild auswählen. Wir versuchen von all den Erfolgsbeispielen weltweit zu lernen, müssen aber unsere eigenen Lösungen für unsere eigenen Probleme finden.

Was sind Ihre Erwartungen und Hoffnungen für das zukünftige indische Gesundheitswesen?

Jain: Indien hat eine historische Chance. Das Gesundheitswesen steht gerade an einer kritischen Schwelle. Die Regierung wird mehr für den Gesundheitssektor ausgeben müssen. Aber es sollte auch eine gute Balance zwischen der Angebots- und Nachfrageseite geschaffen werden. Letztendlich müssen wir uns in Richtung universelle Krankenversicherung bewegen, schließlich deckt auch das neue Programm nur die Hälfte der indischen Bevölkerung ab. Ich hoffe, dass in einigen Jahren jede Inderin und jeder Inder einen Krankenversicherungsschutz hat – und dass Modicare einen Meilenstein auf dem Weg dahin darstellte.

Vielen Dank für das Gespräch!
Foto: GIZ

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